Der Feind in meiner Umkleidekabine

Der Frühling hat zwar im Kalender gestartet, doch wenn ich aus dem Fenster sehe, erinnert es mich eher ein bisschen nach Herbst mit der Tendenz zu Winter.

Nichtsdestotrotz hängen in den Läden und in den Schaufenstern die neusten Frühlings- und Sommertrends, die geradezu schreien «zieh mich an und kauf mich».

Also mache auch ich mich auf den Weg in diese wunderschönen Modetempel und schaue mich einfach nur mal um. Schon landet die erste Culotte auf meinem Arm und auch die traumhafte Oversize-Bluse findet den Weg auf meinen Arm. Ich bin noch keine 2 Minuten am Schauen, schon kommt die nette Verkäuferin und fragt mich, ob sie mir meine Auswahl in die Umkleidekabine hängen darf.
Klar, sie darf.
U-m-k-l-e-i-d-e-k-a-b-i-n-e… ich habe diese Erfahrung mit den Umkleiden schon fast verdrängt, vergraben unter dem Schnee, den wir dieses Jahr nicht hatten. Aus meinen Gedanken gestrichen. Und jetzt ist es so weit, ich schreite mit einem weiteren Teil, hocherhobenen Hauptes in die Umkleidekabine des Grauens.

Als erstes wird mir heiss in dem gefühlt 50 cm2 Kabäuschen. Die Hitze steigt mir so langsam den Hals hinauf und verharrt im Kopf, der nun eine leichte Röte annimmt. Also raus aus den Klamotten und rein in die neuen Trends. Hmmm… soll ich jetzt allen Ernstes meine Schuhe ausziehen und barfuss auf diesen Teppich mit den undefinierbaren Flecken und Fusseln stehen? Stell dich nicht so an, Claudia, du hast ja noch Strümpfe an. Aber was, wenn da jemand vorher war mit Fuss… ne, ich denke nicht fertig. Ich ziehe meine Schuhe, meine Hose und mein Oberteil aus und stehe nun fast nackt vor meinem Feind. Mein Feind der Spiegel.

Hätte ich mich rechtzeitig an diesen Spiegel erinnert, ich hätte mich heute Morgen erst gebügelt, auf Stufe 3 mit Dampf. Zu spät, was ich da sehe im Spiegel gefällt mir nicht. Licht von oben welche mir Falten ins Gesicht und auf den Po werfen, die ich so beim Aufstehen noch nicht hatte, dazu das flauschige Etwas unter meinen Füssen, welches mich automatisch auf die Zehenspitzen stehen lässt. Der etwas kratzige Schmuddel-Vorhang streift leicht meine Beine und die fröhliche Stimme draussen vor dem Vorhang ruft «passt alles meine Dame»?
Dame? Ich wusste es, man sieht mir meine bald 50 und meine nicht gebügelten Beine an. Weshalb sonst nennt sie mich Dame?
«Nö, nix passt, ich habe noch gar nix an». Also ziehe ich beherzt die Culotte, die Bluse im Oversize-Style und die trendige weisse Jeansjacke über.

Was sagt mein Feind der Spiegel? Er sagt nichts mehr, er schaut mich nur ungläubig an. Meine stolzen 160 cm Grösse sehe ich nun in der Horizontalen, die Taille ist verschwunden, dafür ist jetzt ein Bauch zu sehen der einem Wackelpudding aus Grossmutters Zeiten nahekommt.

Zum Glück kommt jetzt meine Rettung, die nette Verkäuferin, die mit Schwung den Vorhang zur Seite zieht und mir versichert, dass ich bezaubernd aussehe. Sie schwärmt von meiner schlanken Taille, die man unter der Oversize-Bluse erahnen kann, von meinen zarten Fussgelenken, die in der Culotte und auf Zehenspitzen besonders gut zur Geltung kommen und von meinem schlanken Bauch, welcher die weisse Jeansjacke vorteilhaft unterstreicht.
Und wem soll ich jetzt glauben, dem Feind in meiner Umkleidekabine oder der netten Verkäuferin? Ich entscheide mich für die zweite Variante.
Jetzt bin ich stolze Besitzerin von drei neuen Frühlingsteilen, welche zuhause vor meinem Spiegel wirklich ganz nett aussehen.

Fazit:

• Glaube nicht zwingend dem Feind in deiner Umkleidekabine

• Ob horizontal oder vertikal ist völlig egal, Hauptsache du fühlst dich wohl

• Das Bügeleisen kannst du getrost im Schrank lassen, es sei denn du willst deine neue Bluse bügeln

Einen zauberhaften Frühling mit vielen modischen Inspirationen wünscht Dir Deine Stylistin

Claudia

1. April 2022 (und das ist kein Scherz)